Vorwort
Im Jahr 2005 wurden die frühere Arbeitslosen- und Sozialhilfe
zusammengelegt und als eine Grund-sicherung, bekannt unter
„Hartz IV“, eingeführt.
Diese Grundsicherung wird jedem zuteil, der keinen Anspruch
auf Arbeitslosengeld hat oder seinen Anspruch aufgebraucht
hat.
Die Vor- und Nachteile dieser Hilfeleistung sollen hier nicht
weiter beschrieben werden, jedoch die Einschnitte waren für
bestimmte Zielgruppen enorm. So fällt jeder Arbeitnehmer,
ungeachtet der Qualifikation, Stellung und Berufserfahrung nach
Ablauf des Leistungs-anspruchs auf Hartz IV-Niveau, sofern keine
anderen Einnahmen oder Einkommen durch eine/n Ehe-
partner/in vorliegen. Wiederum andere Personen-kreise, wie
zum Beispiel Kinder, die noch bei Ihren Eltern lebten oder
auszogen, hatten plötzlich Anspruch auf Grundsicherung.
Ebenfalls Alleinerziehende oder Selbständige.
Kürzlich brachte das Institut für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung eine Studie heraus, die die Aus-wirkungen von
Sanktionen auf die langfristigen Vermittlungschancen
beleuchtete. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass nach einer
Sanktion die Vermittlungs-chancen stiegen, langfristig sich
jedoch umgekehrt und deutlich negativ auf den Verbleib in
Arbeit auswirkten. Außerdem sanken langfristig die Verdienst-
möglichkeiten.
Quelle:
IAB-Forum: Schneller ist nicht immer besser: Sanktionen können sich
längerfristig auf die Beschäftigungsqualität auswirken
Heute sind über 15 Jahre nach Einführung von Hartz IV
vergangen. Es gab zwischenzeitig auch schon andere Studien,
aber auch sehr viele Erfahrungswerte Betroffener, die ähnliche
Zusammenhänge betonten. Außerdem die seelischen und
gesundheitlichen Auswirkungen langer Arbeitslosigkeit oder
prekärer Arbeitsverhältnisse.
Der vorliegende Artikel will diese Aspekte näher beleuchten und
negative Auswirkungen zusammen-fassen, aber auch Wege aus
einer solchen Lebens-situation aufzeigen.
Einleitung
Die Auswirkung von Massenarbeitslosigkeit auf eine
Gesellschaft, auf Familien sowie auf das Individuum wurde
erstmals in einer richtungsweisenden soziologischen Studie am
Beispiel „Die Arbeitslosen
von Marienthal“ wissenschaftlich untersucht (Paul F. Lazarsfeld,
Marie Jahoda, Hans Zeisel. S. Hirzel,Leipzig 1933).
Dabei konnten sowohl drastische Veränderungen im Verhalten
der Betroffenen, im Wertesystem,in der Zukunftsplanung, im
Zusammenleben, in den Schulleistungen von Kindern und auch
in der Wahrnehmung von Zeit (u.v.m.) festgestellt und
dokumentiert werden. Es wurden zudem geschlechts-
spezifische Unterschiede im Umgang mit der Situation erkannt
und beschrieben.
Welche Fragestellungen wurden damals verfolgt?
Fragen zu der Stellung zur Arbeitslosigkeit
Wie war die erste Reaktion auf die Arbeits-losigkeit?
Was hat der Einzelne getan, um Arbeit zu finden?
Wer hat auswärts Arbeit gefunden;
auf welchem Weg?
Welcher Arbeitsersatz wird geleistet?
Stellung zu Arbeitsgelegenheiten insbesondere zur
Auswanderungsfrage
Typen und Phasen des Veraltens
Welche Pläne haben die Untersuchten?
Unterschiede zwischen Erwachsenen / Jugend-lichen
Unterschiede zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen
Verhältnis zu Fürsorge
Fragen zur Wirkung der Arbeitslosigkeit
Wirkung auf den psychischen Zustand der Bevölkerung
Wirkung auf Schulleistung der Kinder
Wirkung auf die Kriminalität
Sind die älteren oder die jüngeren stärker von der
Arbeitslosigkeit betroffen?
Haben sich Schwierigkeiten bei eventueller
Wideraufnahme der Arbeit gezeigt?
Haben sich politische Gegensätze verschärft oder
vermindert?
Hat sich die Stellung zur Religion verändert?
Haben sich allgemeine Interessenverschiebungen gezeigt?
Welche Veränderung hat die Zeitbewertung
durchgemacht?
Wie haben sich die Beziehungen der Einwohner
untereinander verändert?
Veränderungen innerhalb der Familie?
Welche Ergebnisse hatte die Studie gebracht?
Hier kurz zusammengefasst. Wer zeigte sich langfristig
ungebrochen, resigniert, verzweifelt, apathisch? Das Fazit war:
das resignierende Verhalten dominierte schließlich das gesamte
Leben in Marienthal.
Die Ergebnisse der Studie haben bis heute an Aktualität nicht
verloren. Und sie stellen zudem auch wesentliche Arbeitsfragen
eines Life- und Sozialcoachings dar.
Damals war die materielle Not allerdings viel stärker im
Vordergrund, weil aufgrund der besonderen Situation und der
folgenden Wirtschaftskrise keine soziale Absicherung mehr griff.
Heute sind Arbeitslose finanziell bessergestellt, aber dennoch
leben auch bei uns viele an einem Existenzminimum. Schwerer
wirken aber die seelischen, psychosozialen und psychoso-
matischen Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit. Es gibt
nach wie vor geschlechtsspezifische Unter-schiede in der
Wahrnehmung, im Umgang mit sowie der Verarbeitung von
Arbeitslosigkeit. Zudem finden sich Unterschiede in der
Entwicklung von Krankheits-bildern während einer
Langzeitarbeitslosigkeit.
Auch empfinden jüngere Menschen Arbeitslosigkeit anders als
ältere, da die jüngeren noch nicht auf Jahre oder Jahrzehnte
Arbeitstätigkeit zurückschauen.
Die gesellschaftlichen und Arbeitsverhältnisse haben sich seit
„Marienthal“ schon sehr verändert. Der Arbeitslose heute hat
zudem ganz andere Möglich-keiten, seine Zeit zu strukturieren
und den Tag zu füllen, auch wenn es sich hierbei nicht selten um
Ablenkung handelt (TV, Internet, Computerspiele, etc.)
Zurecht fragen sich mittlerweile wieder viele Menschen, ob
Arbeit überhaupt dem Leben Sinn verleiht.
„Soziologisch betrachtet, wirkt der moderne Arbeitsbegriff als
umfassende Beschreibung für individuelles und soziales
Handeln. Bestimmt die Gesellschaft noch den Wert der Arbeit
oder bestimmt die Arbeit den Wert der Gesellschaft bzw. ihrer
Mitglieder? Sind es die individuellen Wünsche oder die
gesellschaftlichen Anforderungen, die Menschen handeln
lassen? Ist es möglich, ein eigenständiges Selbst durch die Arbeit
zu entwickeln, oder sind wir alle nur die Marionetten des großen
Drahtziehers im Hintergrund? Welche Bedeutung hat die Arbeit
tatsächlich für das Leben des Menschen allgemein und
besonders für die Menschen im 21. Jahrhundert?“ Das fragt
Norbert Nüchter (Über die Bedeutung der Arbeit für das
menschliche Leben, 2009)
Auf der anderen Seite erleben wir einen kontinuierlichen Wegfall
von Arbeitsplätzen, der aufgrund technologischer
Entwicklungen nicht aufzuhalten ist. Es entstehen immer wieder
neue Berufsbilder, diese betreffen aber in der Regel die
Spezialisten.
„Seit dem Beginn der Moderne bemisst sich der Wert eines
Menschen am Marktwert seiner Arbeitskraft. Jetzt, da diese Ware
in einer automatisierten Welt zusehends überflüssig wird,
müssen wir den Menschen in seinem Verhältnis zur Gesellschaft
neu definieren.“
(Jeremy Rifkin, Das Ende der Arbeit, S. 13)
Der Arbeitsplatz als Erlebnis- und Gestaltungsraum
Dennoch bleibt der Arbeitsplatz in der westlichen Welt sicherlich
noch einige Zeit bei der Mehrzahl der Bürger das strukturierende
Merkmal im Lebenslauf und die Berufsrolle ein zentraler Aspekt
der Identität.
Denn der Arbeitsplatz ist mehr als nur eine Möglichkeit, seine
elementaren Bedürfnisse sicher zu stellen.Er ermöglicht auf der
Basis einer existentiellen Sicherheit die Grundlage für höhere
Bedürfnisse, die Selbstverwirklichung ermöglichen (vergl.
Maslow).
Aber auch der Arbeitsplatz selbst ist ein Ort, an dem Bedürfnisse
befriedigt werden. Der Arbeitsplatz ist ein Erlebnisraum. Arbeit
ist ein psychosozialer Aspekt.
Die Arbeitszeit strukturiert zum Beispiel die Tages-
und die Lebenszeit eines Menschen. Es entsteht ein Rhythmus.
Der Arbeitsplatz ermöglicht soziale Kontakte und bindet den
Menschen ein in ein soziales Netz. Dadurch nimmt der Mensch
teil an Gesellschaft, Kultur und Politik. Er bündelt seine
physischenund mentalen Energien und bringt diese zum
Ausdruck in der Herstellung eines Produktes, einer
Dienstleistung, einer Idee oder anderes. Indem die
Lebensenergie sinnvoll kanalisiert wird, erhält sich der Mensch
psychische und physische Gesundheit. Mit den sozialen
Kontakten entstehen selbstverständlich auch Reibung und
Konflikte, die wiederum Veränderung und Wachstum der
Menschen in Ihrer Persönlichkeit bewirken können.
Krisen bieten die Möglichkeit zu sinnvoller Neuaus-richtung im
Leben oder dazu, eigene Verhaltensmuster, Werte und Normen
zu überdenken und zu ändern. Der Mensch erlebt geistige und
körperliche Heraus-forderung, Erfolg und Misserfolg, Macht und
Ohnmacht. Er entwickelt Selbstwertgefühl durch zunehmenden
Wissens, Könnens und durch Leistung. All diese Aspekte wirken
sich entsprechend auch auf das soziale Umfeld aus, auf
Beziehung, Familie, Freundeskreis. Ebenso entstehen Aspekte
wie Status und Ansehen.
Der Arbeitsplatz als Erlebnis- und Gestaltungsraum
Wir leben in einer Gesellschaft, in der Freizeit ein wesentlicher
Aspekt des Lebens geworden ist. Aber eine Freizeit, die noch so
sinnvoll ausgefüllt wird, ersetzt nicht im gleichen Maße den
Stellenwert der Arbeit. Welche und wie viel Arbeit der Mensch
braucht, was er als Herausforderung erlebt, wie viel
Sinnhaftigkeit er durch Arbeit findet, kann nur der Einzelne für
sich selbst herausfinden und unterscheidet sich je nach
Persönlichkeitsstruktur und Wertesystem.
Dient die Identifikation mit der Arbeit einem Weg zur
Selbstverwirklichung oder wird Arbeit „nur“ als Möglichkeit
gesehen, finanziell am Gesellschaftsleben teil zu haben.
Der Mensch benötigt jedoch mindestens so viel Arbeit, damit er
den Kontakt zur gesellschaftlichen, kulturellen und politischen
Realität nicht verliert. Arbeit ist ein Aspekt von Gesundheit und
Gesundheit ist ein Aspekt von Arbeit. Mit einem Zitat
gesprochen:
„Gesundheit ist die Fähigkeit, lieben und arbeiten zu können“
(Sigmund Freud).
Arbeitslosigkeit und Gesundheit
a)
Macht Arbeitslosigkeit krank oder führt Krankheit zu
Arbeitslosigkeit?
Für beide Erklärungsmodelle gibt es zahlreiche Hinweise und
Belege. Das erste Erklärungsmodell kennt man unter dem Begriff
„Kausalitätshypothese“, das zweite nennt man die
„Selektionshypothese“.
In einzelnen Fällen können auch gleichzeitig beide Modelle als
Erklärung herangezogen werden.
Arbeitslosigkeit kann Folge und (Mit-)Ursache einer Erkrankung
sein (Dualität).
Die Gesetze einer wettbewerbsorientierten Mark-twirtschaft
führen leicht dazu, dass einerseits die „fitteren“ Bewerber im
Auswahlverfahren bevorzugt werden, aber auch, dass kranke
Arbeitnehmer bei einem hohen Angebot an Arbeitskräften einer
Gefahr der Kündigung eher ausgesetzt sind. Besonders bei
befristeten oder Zeitarbeitsverträgen. Dies spricht für das
Vorhandensein eines Selektionsprinzips.
Der Übergang in die Arbeitslosigkeit löst jedoch zahlreiche
Prozesse aus, die sich langfristig negativ
auf die Lebenssituation und Lebensführung der Betroffenen
auswirkt. Sie verlieren nicht nur einen beträchtlichen Teil des
Einkommens und sehen sich
mit ganz neuen Vorgaben durch Behörden konfrontiert, vor
denen viele zudem noch Angst haben. Es werden die oben
genannten Alltags-und Beziehungsstrukturen durcheinander
gebracht, aufgeweicht oder entfallen komplett (Der Arbeitsplatz
als Erlebnis- und Gestaltungsraum). Das weist auf das
Vorhandensein eines Kausalitätsprinzips hin.
Die Zeit- und Alltagsstruktur, die ein ganz wichtiges
Orientierungsprinzip im Leben darstellen, geratenin Unordnung.
Kontakte und Beziehungen gehen verloren, Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben reduziert sich, ebenfalls die
Möglichkeit, gebraucht zu werden und Leistung zu zeigen, was
wiederum fehlende Anerkennung zur Folge hat sowie ein
Rückgang des Selbstwertgefühls.
Viele Betroffene verheimlichen zudem ihre Arbeits-losigkeit, weil
sie entsprechende negative Reaktionen aus ihrem Umfeld
befürchten. Die Gesellschaft neigt bei der Erklärung vieler
Phänomene zu Alltagstheorien, die wiederum eine Verstärkung
der Belastungssituation und Stigmatisierung bewirken.
„Phänomene wie Bagatellisierung, Individualisierung,
Naturalisierung und Historisierung von Arbeits-losigkeit
bestimmen das Bild in und den Umgang von der Gesellschaft mit
der Massenarbeitslosigkeitund den davon betroffenen
Menschen. Dieses gesellschaftliche Bild wiederum bestimmt die
individuelle Bewältigung der Erwerbslosigkeit direkt und
indirekt Betroffener wesentlich mit.“(September 2008:
Arbeitslosigkeit: Psychosoziale Folgen):
Bagatellisierung
Indem die Gesamtgruppe aller Arbeitslosen anhand bestimmter
Kriterien in einzelne Gruppen aufgespalten wird, von denen nur
spezielle Gruppen überhaupt in der offiziellen
Arbeitslosenstatistik erfasst werden, wird das wahre Ausmaß der
gesellschaftlichen Spaltung zu verbergen versucht.
Damit werden wachsende Gruppen von Arbeitslosen von
Leistungen aber auch von der öffentlichen Wahrnehmung
ausgeschlossen. Dies trifft ganz besonders auf Frauen zu, die
sich jahrelang um Familie und Haushalt gekümmert haben.
Individualisierung
Individualisierende Schuldzuweisungen wie z.B. Arbeitslosen
„Arbeitsunwilligkeit“, „zu geringe oder falsche Qualifikationen“,
„zu hohe Ansprüche an einen Arbeitsplatz“ oder „bewussten
Missbrauch von Sozialleistungen“ zu unterstellen, führt auf
Seiten der Arbeitslosen zu einem permanenten Recht-
fertigungsdruck, nicht zu der Gruppe zu gehören, die ihre
Situation selbst verschuldet hat. Dieser Mechanismus betont
und verschärft die Grenze zwischen Beschäftigten und
Erwerbslosen. Er verstärkt die soziale Stigmatisierung von
Arbeitslosen und erleichtert zudem den Beschäftigten die
Illusion der Kontrolle des eigenen Arbeitslosigkeitsrisikos durch
Wohlverhalten aufrechtzuerhalten. Die Individu-alisierung
macht somit aus den Opfern einer Arbeitsmarkt-Krise ihres
eigenen Schicksals und nimmt den Betroffenen damit eine
wesentliche Grundlage, um kollektiv politisch für die
Verbesserung ihrer Situation zu kämpfen.
Naturalisierung
Ausgrenzend wirkt ebenso, wenn Massenarbeitslosigkeit als
„von Natur gegeben“ betrachtet wird und somit aus den
Bereichen der aktiven Politik ausgeschlossen und ihr somit die
Sichtweise der bewussten Veränderbarkeit entzogen wird.
Historisierung
Die Abwälzung der Gründe für die Massenarbeitslosigkeit im
Deutschland der 90er Jahre auf die deutsche Vereinigung und
genauer die „Erblast des sozialistischen Systems der DDR“ oder
die dort konstatierte fiktive „verdeckte Arbeitslosigkeit“, ist ein
gesellschaftlicher Erklärungsversuch von Arbeits-losigkeit, der
die Lebensleistungen vieler Menschen massiv entwertet. Diesen
Menschen wird bedeutet, dass das, was sie in ihrem bisherigen
beruflichen Leben geleistet haben, sinn- und wertlos war.
Zahlreiche Studien weisen jedoch darauf hin, dass ein
Verursachungsprinzip (Kausalitätshypothese) vorherrschend ist
und Arbeitslosigkeit und prekäre Arbeitssituationen krank
machen.
„Arbeitslose Frauen und Männer sind von vielen Beschwerden
und Krankheiten häufiger betroffen als Erwerbstätige des
gleichen Alters (RKI 2003). Hinweise liefert etwa die
Arbeitsunfähigkeitsstatistik der gesetzlichen Krankenkassen. Der
Gesundheitsreport der Betriebskrankenkassen (BKK) aus dem
Jahr 2010 zeigt, dass arbeitslose Frauen im Jahr 2009 mit
durchschnittlich 22,8 Tagen deutlich häufiger arbeitsunfähig
waren, als weibliche Angestellte mit 12,4 Tagen. Bei Männern
betragen die entsprechenden Werte 19,5 und 9,7 Tage.“ (GBE
kompakt - 1/2012)
Weitere erhebliche Unterschiede zwischen Arbeitslosen und
Berufstätigen konnten die Autoren: Dr. Thomas G. Grobe, MPH
und Prof. Dr. Friedrich W. Schwartz in der
Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Heft 13 bezogen auf
einzelne Diagnosen oder Diagnosegruppen, in der Krankenhaus-
verweildauer darlegen. Folgende Abbildungen zeigen die bei
arbeitslosen Männern bzw. Frauen erfassten Leistungstage der
GEK-Versicherten in Krankenhäusern im Vergleich zu
Leistungstagen bei aktuell Berufstätigen, aufgeteilt nach
ausgewählten Diagnosekapiteln der Internationalen
statistischen Klassifikation der Krankheiten in der 10.Revision
(ICD10). Auf die angegebenen Kapitel entfallen 99 % aller
Krankenhaustage.
Grundsätzlich gilt, dass Arbeitslose, im Vergleich zu
Berufstätigen, in Bezug auf alle Diagnosekapitel eine höhere
Inanspruchnahme von Krankenhausleistungen aufweisen
(gemessen an der Verweildauer). Bei Neubildungen, Krankheiten
des Kreislaufsystems, der Harn- und Geschlechtsorgane sowie
des Bewegungs-apparates finden sich geringe bis mäßige
Unterschiede zu Ungunsten von Arbeitslosen.
Deutlicher erscheinen die Differenzen bei Infektions-
erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen, Krank-heiten der
Verdauungsorgane sowie bei Verletzungen und Vergiftungen.
Unter arbeitslosen Frauen finden sich zudem doppelt so viele
schwangerschaftsbedingte Krankenhaustage.
Die mit Abstand deutlichsten Unterschiede zeigen sich
hinsichtlich stationärer Aufenthalte wegen psychischer
Störungen: Arbeitslose Manner verbringen nahezu siebenmal
mehr Tage mit einer ent-sprechenden Diagnose im Krankenhaus
als Nicht-Arbeitslose, unter Frauen betragt das Verhältnis 3:1.
Nach diesen Ergebnissen lassen sich bei Männern 60% der
Unterschiede in der Krankenhaus-verweildauer zwischen
Arbeitslosen und Berufstätigen auf Krankenhaustage mit der
Diagnose einer psychischen Störung zurückfuhren, bei Frauen
erklären diese 37 % der Differenzen. Schwangerschafts-bedingte
Aufenthalte sind unter Frauen für etwa 32% der zusätzlich
erfassten Leistungstage von Arbeitslosen verantwortlich zu
machen.
Eine folgende Grafik soll das Risiko der Sterblichkeit in
Abhängigkeit vorausgegangener Arbeitslosendauer aufzeigen.
a)
Wie macht Arbeitslosigkeit krank?
Nicht nur Arbeitslosigkeit macht krank, sondern auch
sogenannte „prekäre“ Arbeitsverhältnisse.
Dazu zählen unterbezahlte Jobs, die sich am Mindestlohn und
darunter bewegen oder einfach die Person und Familie nicht
ernähren können, ohne Zusatzleistungen zu beantragen.
Zeitarbeitsverträge, unsichere Jobs aufgrund von
Umstrukturierungs-maßnahmen und Personalabbau sowie
Jobs, die nicht zur Qualifikation passen (Überforderung und
Unterforderung).
Außerdem wirkt sich allein der Gedanke an einen möglichen
Verlust oder die Angst vor Mangel für das psychische System
ganz genauso aus als sei der Mangel vorhanden. Das Gehirn und
damit auch die Körper-funktionen unterscheiden nicht zwischen
gedachten und realen Situationen. Dies ist aus der
Stressforschung zwischenzeitig bekannt. Und daher wirken sich
allein drohende Zustände schon krankmachend aus.
So kommen wir zu den Wirkprinzipien, die einen Organismus
krank machen können. Wir wissen, dass dauerhafte
Stressbelastungen zu vielfältigen neurologischen,
physiologischen und biochemischen Veränderungen führen, die
den Organismus langfristig schädigen. Kurze Stressmomente
oder -phasen werden durch den Organismus mit
entsprechenden Stressreaktionen kompensiert. Adrenalin und
weitere Botenstoffe werden ausgeschüttet, damit der
Organismus agieren oder reagieren kann.
Muskeltonus erhöht sich, die Herzfrequenz passt sich an und
Organfunktionen, die bei einer Angriffs- oder Fluchtreaktion
nicht benötigt werden, werden heruntergefahren. Nach
überstandener Gefahren-situation normalisieren sich diese
Prozesse, es kommt zu einer Entspannung Der Organismus ist
evolutionär darauf eingestellt, bei Gefahr mit Kampf oder Flucht
zu reagieren. Genauso, wie bei einer „realen“ Gefahr - z.B. bei
einem physischen Angriff - mit Kampf oder Flucht geantwortet
wird, so kann der Organismus bei seelischer oder
wirtschaftlicher Gefahr auch nicht anders reagieren. Er
antwortet mit denselben physiologischen Prozessen.
Arbeitslosigkeit, aber auch prekäre Arbeitsverhältnisse stellen
für die meisten Menschen erst einmaleine zu erwartende
Dauerbelastung (Stressor) dar, deren Ende zum aktuellen
Zeitpunkt jedoch noch unbekannt ist. Diese „Unbekannte“ löst
eine permanente Stresshaltung aus. Je länger die Situation
anhält, desto eher manifestieren sich entsprechende
Stresssymptome. Diese Dauerbelastung, bzw.das Ausbleiben der
Erholungspause, haben physiologische und organische
Veränderungen und Schädigungen zur Folge (dauerhaft
erhöhtes Adrenalin und Cortisol, Cholesterin, gestörter Zucker-
stoffwechsel, Bluthochdruck, erhöhter Muskeltonus, gestörte
Verdauungsfunktionen, Immundefizite u.v.m.).
Insgesamt sind mehrere Faktoren bekannt, wie Arbeitslosigkeit
zu Krankheit führen kann:
Stressmodell
Deprivationstheorie
Gesundheitsschädigendes Eigenverhalten und riskante
Lebensweise
Vitamin-Modell nach Peter Warr
Peter Warr, ein britischer Arbeitspsychologe, hat folgende
lebenswichtige „Vitamine“ der Arbeitswelt definiert:
Zu den Constant-Effekt-Faktoren zählen:
1. die Verfügbarkeit finanzieller Ressourcen
2. die physische Sicherheit
3. die soziale Position, die Selbstachtung und Anerkennung
durch andere
Diese Faktoren müssen vorhanden sein, damit eine gesunde
Basis existiert. Ist eine bestimmte Quantität erreicht, dann
verstärkt sich hier die Wirkung nicht mehr.
Zu den Additional-Decrement-Faktoren zählen:
1. die Möglichkeit zur Kontrolle der eigenen Lebensbedingungen
2. die Möglichkeit zu sozialen Kontakten
3. die Möglichkeit, eigene Fähigkeiten zu entwickeln und
anzuwenden
4. externe Zielvorgaben, die aktivierend und motivierend wirken
5. die Abwechslung und damit die Chance, neue Erfahrung zu
machen
6. die Vorhersehbarkeit und Durchschaubarkeit von Ereignissen
Hier ist ein „zu wenig“ genauso schädlich, wie ein „zu viel“.
Dauerhafter Mangel (Deprivation) oder ein zu erwartender
Mangel (also die Angst vor Mangel) ist ein Stressor, der wiederum
entsprechende Stressreaktionen im Organismus auslöst. Das
Nervensystem unterscheidet dabei vorerst nicht zwischen
materiellem und immateriellem Mangel.
Gesundheitsschädigendes Eigenverhalten und riskante
Lebensweise sind weitere Faktoren die bei vielen Menschen
unter Dauerstress, also auch bei Lang-zeitarbeitslosen,
anzutreffen sind. Dazu zählen unter anderem Probleme durch
einseitige Ernährung, erhöhter Alkohol- und Nikotinmissbrauch,
Tabletten-konsum und in der heutigen Zeit, erhöhte Sucht bei
der Nutzung digitaler Medien.
Arbeitslosigkeit ist zudem ein sehr großer sozialer Stressor, da er
zu Verlusten bei den zwischenmenschlichen Beziehungen führen
kann und so eine mangelnde soziale Eingebundenheit zur Folge
hat. Denn der Arbeitsplatz stellt in unserer Gesellschaft eine
zentrale Möglichkeit dar, soziale Kontakte zu leben und zu
pflegen. Arbeitslose leiden zudem häufig unter
Stigmatisierungen aus dem sozialen oder gesellschaftlichen
Umfeld und ziehen sich daraufhin zurück.
Rollenveränderungen, Identitätsverlust, mangelhaftes
Selbstwertgefühl und soziale Isolation sind bekannte Folgen.
Zahlreiche Arbeitslose entwickeln daher langfristig depressive
Verstimmungen bis hin zu Depressionen, Angststörungen,
Schlafstörungen, Reizbarkeit, Apathie und Resignation. Dies
alles hat einen bedeutsamen Rückgang von Vitalität und
Lebensqualität zur Folge.
Vitalität, Mut, Selbstwirksamkeitserwartung, dies sind alles
wesentliche Faktoren, um wieder aus einer solchen Krise
herauszukommen.
Finanzielle Einschränkungen bis hin zur Ansammlung von
Schulden kommen erschwerend hinzu.
Sie stellen nicht nur einen eigenen Stressor dar, sondern
schränken auch viele Aktivitäten und damit Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben ein. Der Lebensalltag wird schwieriger,
viele Aktivitäten werden aufwendiger, z.B. weil kein Kfz
vorhanden ist, eine kaputte Waschmaschine führt zu erheblicher
Mehrarbeit, mangelnde Kaufkraft erkennt man ggf. am Äußeren
(Kleidung).
„Big Six“ der Überschuldungsgründe:
Quelle: iff Überschuldungsreport 2015
Viele dieser Aspekte und Problematiken stehen in einer
wechselseitigen Beziehung zueinander.
Auf diesem Weg entwickeln sich häufig sogenannte „multiple“
Belastungssituationen.
Mensch und Umwelt sind in einem „ökologischen System“
miteinander verbunden, wie später noch im Kapitel zum
methodischen Ansatz beschrieben wird. Wie jedes ökologische
System benötigt auch dieses ein ökologisches Gleichgewicht,
einen geregelten Austausch zwischen den Lebenswelten, eine
ausgewogene Homöostase.
Arbeitslosigkeit, Kindheit und Sozialisation
Besonders Kinder sind von finanziellen Einschränkungen
betroffen. Sie können an Aktivitäten Gleichaltriger nicht
teilhaben, können sich bestimmte Konsumgüter nicht leisten
und werden damit leichter zu Außenseitern. Häufig sind die
Wohnverhältnisse entsprechend eingeschränkt, was sich
hemmend auf die seelische Entfaltung der Kinder oder deren
Lernmöglichkeiten auswirkt.
Aber auch die Zukunft von Kindern arbeitsloser Eltern verläuft
nicht gleichermaßen erfolgreich, wie die von Berufstätigen.
„Söhne arbeitsloser Väter sind häufiger selbst arbeitslos –
entscheidend ist der Familienhintergrund.
Die Ergebnisse der Studie lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Söhne arbeitsloser Väter sind im Alter von 17 bis 24 Jahren
häufiger selbst arbeitslos als Söhne, deren Väter eine
Beschäftigung hatten.
Jedes Jahr mehr an väterlicher Arbeitslosigkeit im Alter 10 bis 15
Jahre des Sohnes erhöht die Arbeitslosigkeit des Sohnes um
etwa ein Drittel …“ (Prof. Dr. Steffen Müller, Wirtschaft im
Wandel, Jg. 22 (2), 2016)
Eine Studie von Bernhard Schmidpeter vom RWI Leibniz-Institut
für Wirtschaftsforschung Essen zeugt zudem: „Wenn Eltern zum
Zeitpunkt der Schulwahl – wenn die Kinder 10 Jahre alt sind –
arbeitslos sind, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Kinder
später einen Universitätsabschluss machen, nur bei 25 Prozent.
Von den Kindern, die erst im Alter von 12 Jahren von der
Arbeitslosigkeit des Hauptverdiener-Elternteils betroffen sind,
erreichen dagegen 30 Prozent einen Studienabschluss. Der
ungünstige Zeitpunkt sorgt unter Kindern, die aufgrund der
Arbeitslosigkeit ihrer Eltern ohnehin schon benachteiligt sind,
also für einen Rückgang der Akademikerquote um rund 14
Prozent.
Im Durchschnitt erzielen betroffene Personen im Alter von 35 bis
37 Jahren ein um bis zu 3.500 Euro geringeres Jahreseinkommen
durch die Arbeitslosigkeit des Elternteils. Über die Dauer der
Karriere macht das einen Unterschied von bis zu 65.000 Euro
aus.“
Aber, wie sieht es mit den psychosozialen Aspekten bei den
Kindern und Jugendlichen aus?
Die Forschungen auf diesem Gebiet sind noch sehr dünn.
Sowohl in Statistiken als auch in Diskussionen werden sie
überwiegend als Teil der Familieversteckt mitthematisiert, wenn
es um Alleinerziehende, Mehrpersonenhaushalte ode Familien
geht.
„Elterliche (Langzeit-)Arbeitslosigkeit betrifft die Kinder (im
schulpflichtigen Alter) in ganz ähnlicher Weise wie die
Erwachsenen. Alle besonders auffälligen Symptome der
Auswirkungen von Arbeitslosigkeit im personalen und sozialen
Bereich sind auch bei den mitbetroffenen Kindern beobachtet
worden: Psychische Auffälligkeiten – Angstzustände,
Schlafstörungen, motorische Unruhe, emotionale Labilität,
Introver-sionen, Konzentrationsschwäche, Regressionen. Soziale
Auffälligkeiten – Abbruch sozialer Kontakte, Angst vor
Stigmatisierung, Verleugnung der Arbeitslosigkeit in der Familie,
Distanzierung von den Eltern, Leistungsabfall, Delinquenz.“
(Kinder arbeitsloser Eltern: Erfahrungen, Einsichten und
Zwischen-ergebnisse aus einem laufenden Projekt Karl G. Zenke,
Günter Ludwig)
Kinder lernen besonders in den ersten Jahren durch
Vorbildfunktion. In der Lernforschung nennt man dies „Lernen
am Modell“. Kinder von langzeitarbeitslosen Eltern, deren Eltern
ebenfalls schon arbeitslos waren, also Arbeitslosigkeit über zwei
oder drei Generationen hinweg, sind ganz besonders betroffen ,
da sie diesen Zustand als Normalität erleben. Sogenannte „Hart-
4-Generationen“ gibt es schon in Deutschland.
Kinder arbeitsloser Eltern haben im Vergleich zu anderen
erheblich weniger berufliche Erfolgschancen und leiden sehr viel
häufiger unter Zukunftsängsten und anderen psychischen
Störungen sowie Entwicklungsdefiziten.
Interventionsmöglichkeiten und Maßnahmen
Arbeitslosigkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und
Problem und kann nicht nur dem Einzelnen zugeschrieben
werden und nicht nur beim Einzelnen ansetzen.
Der alleinige Fokus auf den Einzelnen erhöht dessen
Problematik, da dies eine Form der Stigmatisierung darstellt, bei
dem der Betroffene die Fehler und die Lösungen bei sich selbst
suchen muss.
Vielen Maßnahmen liegt die Annahme zugrunde, die
Arbeitslosigkeit sei „verhaltensbedingt“, also selbst verschuldet.
Wissenschaftlich gesehen kann dies jedoch nicht belegt werden,
da hierzu rückwirkend niemals das notwendige Datenmaterial
erstellt werden kann. Es handelt sich also grundsätzlich um eine
Vermutung.
Bei schwachem Arbeitsmarkt oder zu geringen
Verdienstmöglichkeiten oder branchenbedingten Arbeits-
marktkrisen liegen zudem ganz klar strukturelle Probleme vor,
auf die der einzelne keinen Einfluss hat.
Und dennoch muss selbstverständlich eine Beratungsarbeit,
unter der Berücksichtigung der äußeren Faktoren, verstärkt
beim Individuum ansetzen. Denn dieses benötigt auf mehreren
Ebenen Unterstützung.
Gesellschaftliche und erst wirtschaftliche Einflussfaktoren lassen
sich nur langfristig durch Aufklärung, Wertewandel oder
politisch verändern.
Fassen wir noch einmal zusammen, welche Probleme sich beim
Individuum und seiner Familie durch Langzeitarbeitslosigkeit
entwickeln und welche Lebenslebereiche betroffen sein können:
Grafik: Knut Diederichs
a)
Welche Interventionen oder Maßnahmen können als
kritisch bewertet werden?
Sämtliche Maßnahmen, bei denen die Annahme im Raum steht,
der Arbeitslose sei vordergründig oder allein für seine Situation
verantwortlich, rufen entweder Widerstände hervor oder lösen
Gefühle der Stigmatisierung aus.
Sich wiederholende Maßnahmen, wie zum Beispiel, das dritte
Bewerbungstraining, zeigt einerseits, dass die ersten beiden
offensichtlich nicht von Erfolg gekrönt waren und werden von
den Betroffenen auch häufig als Schikane empfunden. Denn aus
ihrer Sicht haben sie seitdem „alles“ versucht. Die Inhalte
wiederholen sich zudem, was eher langweilt als motiviert.
Inhalte von Bewerbungstrainings sind nahezu identisch, aber
auch widersprüchliche Meinungen, zum Beispiel zur
Bewerbungsstrategie, rufen Irritation hervor.
Dazu zählen auch der Fokus auf zu viele (Anzahl) und wenig
zielführende Bewerbungsaktivitäten, nur um eine bestimmte
Quote zu erreichen. Sowie Bewerbungen auf Stellen außerhalb
der Qualifikation oder des Selbstwertes. Erkennt der Bewerber
darin eine sinnvolle, wenn auch schmerzhafte Alternative, dann
bekommt die „Neuorientierung“ einen anderen Stellenwert.
Zu hohe Ziele oder wenig herausfordernde Ziele gehören
ebenfalls dazu. Eine zu hohe Konzessions-bereitschaft bei der
Art der angestrebten Arbeit ist demotivierend. Sogenannte „bad
jobs“, also prekäre Arbeitsverhältnisse, sollten vermieden
werden. Sie können in einzelnen Fällen zum schnellen Erfolg
führen, aber langfristig tragen diese nicht zum Erhalt der
Gesundheit bei und bergen einen Bumerang-Effekt.
Jede Arbeitslosigkeit, die umso länger andauert, erhöht die
Gefahr krankmachender und demotivieren-der Faktoren und
erschwert selbstverständlich die Integrationschancen allein
schon aufgrund des schwindenden „Marktwertes“.
Maßnahmen, die zum Abschluss nicht zu einer erfolgreichen
Vermittlung führen, verschlechtern die psychische Situation und
Motivation der Betroffenen, da sie als Misserfolg gewertet
werden.
Menschen mit einer hohen Identifikation mit ihrem Job oder
ihrer Berufsrolle sowie mit einem hohen Leistungsanspruch
tragen eine größere Last, wenn es zu einer Arbeitslosigkeit
kommt.
Eine hohe Hoffnung (Erwartungshaltung) auf einen neuen Job
wirkt sich anfangs motivierend, aber langfristig demotivierend
aus. Bei niedriger Erwartungshaltung ist es umgekehrt.
Das eigene Problemlösungsverhalten stellt ebenfalls einen
wesentlichen Faktor bei diesen Prozessen dar, dazu komme ich
aber weiter unten noch.
b) Welche Interventionen sind motivierend und
stabilisierend?
Jede Geschichte hat eine Vorgeschichte und sollte entsprechend
gewürdigt werden, indem sie besprochen, reflektiert und
gemeinsam bewertet wird.
Die Vergangenheit eines Menschen ist mehr oder weniger, aber
stets eine (Re-)Konstruktion. Sie wirdaus der Sichtweise des
Betroffenen erzählt. Und dabei werden Zusammenhänge
subjektiv rekonstruiert.
Zum Schutz des eigenen seelischen Systems neigen viele
Menschen dazu, die Gründe für Schwierig-keiten oder Fehler im
Außen zu suchen oder füllen Gedächtnislücken gerne mit
konstruierten Fakten.
Dennoch bleibt der Betroffene der Einzige, der diese Geschichte
erzählen kann und es ist wichtig, die Historie kennen zu lernen,
die zur Arbeitslosigkeit oder zur Langzeitarbeitslosigkeit geführt
hat. Eine jahrelang belastende Arbeitssituation aufgrund von
Miss-stimmung im Team, Über- oder Unterforderung oder ein
über Jahre drohender Personalabbau hinterlassen ihre Spuren
und stellen die Grundlage für späteres Entscheidungsverhalten
dar.
Die zahlreichen Versuche, aus der Arbeitslosigkeit
herauszukommen (wichtige Frage: was hat der Mensch bisher
schon alles versucht?), Misserfolge, erschweren-de zusätzliche
Aspekte und Einflüsse, die eine Folge des Arbeitsverlustes und
dann wiederum eine Ursache für weitere Probleme sein können,
sollten gewissenhaft erfasst werden.
Menschen erzählen in der Regel gerne ihre Geschichten.
Jede Maßnahme, die möglichst früh ansetzt, erhöht die
Erfolgsaussichten. Daher sind Out- oder New-placement-
Programme wünschenswert. Diese setzen in der Regel vor
Eintritt möglicher Arbeitslosigkeit an.
Verbesserung der Bewerbungsqualität und Präsen-
tationsfähigkeit gehören, wie auch die gezielte und
arbeitsmarktbezogene Verbesserung von Fach-kompetenz
(Zukunftsjobs) dazu.
Reflexive Verfahren, die das informelle Wissen und Können des
Betroffenen herausarbeiten, stellen einen zentralen Ansatz in
der arbeitsmarktorientierten Beratung dar.
Eine Teilhabe am Arbeitsleben, zum Beispiel durch Teilzeit- und
Minijobs, wirken sich nicht nur förderlich auf den Geldbeutel aus
und damit wiederum auf die Erhöhung von Handlungsspielraum
oder der Absicherung von Grundbedürfnissen, sondern
ermöglichen soziale Kontakte und können das Selbst-wertgefühl
erhöhen, sofern die Art der Arbeit die Akzeptanz des Betroffenen
findet.
Sogar Schwarzarbeit wirkt sich eher positiv auf die
Psychohygiene aus. Staatliche Maßnahmen sollten
Arbeitsmöglichkeiten und Zusatzverdienste nicht gleichzeitig
durch Leistungskürzungen verhindern. Aktivität sollte nicht
sanktioniert, sondern gefördert und begleitet werden.
Psychologisch orientierte Trainings und Coachings, die
Handlungskompetenz, Motivation und
Selbstwirksamkeitserwartung erhöhen, können grundsätzlich
als förderlich bewertet werden.
Jegliche Maßnahmen, die dem Lebensalltag Struktur und
Orientierung verleihen, attraktive und erreichbare Ziele
vermitteln, Erfolgserlebnisse erzielen und zu einer
gesundheitsförderlichen Lebensführung verhelfen (z.B.:
Ernährung, Bewegung, etc.), wirken sich positiv auf den
Betroffen und sein soziales Umfeld aus.
c) Verhaltensprävention und Verhältnisprävention
Angestrebt wird eine Kombination aus Verhaltensprävention
und Verhältnisprävention.
Wie der Begriff „Verhaltensprävention“ schon sagt, geht es hier
um eine Intervention beim eigenen Verhalten und der
Vermeidung von verhaltensbedingten negativen Einflüssen.
Damit ist unter anderem gesundheitsschädigendes Verhalten
gemeint, wie zum Beispiel mangelhafte Ernährung oder Konsum
von Drogen. Aber auch nicht förderliche emotionale und
mentale Prozesse (negatives Denken), welche eine schädliche
Situation stabilisiert oder den Weg daraus erschwert.
„Verhältnisprävention“ (strukturelle Prävention) beschäftigt sich
mit den technischen, organisatorischen und sozialen
Bedingungen des gesellschaftlichen Umfeldes und deren
Auswirkungen auf die Entstehung von Krankheiten. Sie zielt auf
die Veränderungen der Lebensbedingungen der Menschen.
d) Fördernde und weniger fördernde
Problemlösungsstrategien
Ein effektives Stressmanagement trägt erheblich zur Erhaltung
der Gesundheit und Leistungsfähigkeit bei.
Aus vielen wissenschaftlichen Studien ist bekannt, dass ein
richtiges Zusammenspiel von Stressbewäl-tigungsstrategien
deutlich die Stressbelastung senken kann.
Vorweg ein paar Erklärungen zum Phänomen Stress.
Durch die Arbeiten des Mediziners Dr. Hans Seyle wurde der
Begriff „Stress“1956 erstmalig bekannt.
Er wurde aus der Materialforschung entlehnt. Auf ihn geht auch
die Unterscheidung zwischen Distress und Eustress, also
zwischen negativ und positiv erlebtem Stress, zurück.
Dr. Hans Seyle formulierte folgende Definition:
Er definierte Stress als „die unspezifische Antwort des Körpers
auf eine Anforderung“. Stress ist eine Aktivierungsreaktion
unseres Körpers und nicht die Ursache, die ihn auslöst. Während
der Begriff „Stress“ als solcher neutral ist, d.h. nichts darüber
aussagt, ob die körperliche Aktivierung positiv oder negativ ist,
wird er in der Umgangssprache meist negativ im Sinne einer
Belastung verwendet: „Ich stehe unter Stress“ oder „Das war
wieder ein Stress heute“.
Nach Lazarus kommt zur Auswirkung von sogenannten
„Stressoren“ (das, was einem Menschen Stress macht) ganz
entscheidend die eigene Bewertung hinzu.
Dazu zählen die Interpretation und Bewertung des Stressors
sowie die der eigenen Ressourcen.
„Stressbewältigung umfasst kognitive und verhaltensbezogene
Anstrengungen zur Handhabung externer und interner
Anforderungen, die von der Person als die eigenen Ressourcen
beanspruchend oder überfordernd angesehen werden.“ (Lazarus
& Folkman, 1984, S. 141)
Die Stressbewältigung wird als Coping bezeichnet. Lazarus
unterscheidet drei verschiedene Arten des Copings.
Problemorientiertes Coping
Das Individuum versucht, durch Informationssuche, direkte
Handlungen oder auch durch Unterlassen von Handlungen
Problemsituationen zu überwinden.
Emotionsorientiertes Coping
Das Individuum versucht, die durch die Situation entstandene
emotionale Erregung abzubauen.
Bewertungsorientiertes Coping
Das Individuum bewertet die Belastung eher als
Herausforderung, wodurch Ressourcen frei werden, um
angemessen zu reagieren. Dies kann nur gelingen, wenn
konkrete Problemlösungsansätze gefunden werden (siehe
problemorientiertes Coping). Es sollten also verschiedene
Bewältigungsstrategien kombiniert werden (vgl. Lazarus 1999).
Was als Stressor angesehen wird und welche Copingstrategie
eingesetzt wird, das hängt auch sehr von
Persönlichkeitsaspekten ab sowie von der Sozialisation. Also von
erlerntem Verhalten.
Aktives emotionsorientiertes Coping, wie zum Beispiel, Sport
oder vielleicht bewußte Formen der Katharsis können noch
differenziert werden von Wutausbrüchen, Weinen oder
ähnlichem.
Stressverschärfende Gedanken erschweren den Lebensalltag
und sie sind zahlreich beim Menschenzu finden. In besonderen
Belastungssituationen wirken sie umso verstärkender. Diese gilt
es bei der „kognitiven Umstrukturierung“ in neue hilfreiche
Gedanken umzuwandeln und die Herausforderung in einer
Situation zu sehen.
Der Stressforscher Gerd Kaluza beschreibt fünf bekannte
stressverschärfende Haltungen:
•
Sei perfekt
•
Sei beliebt
•
Sei unabhängig
•
Behalte die Kontrolle
•
Halte durch
Jede dieser Haltungen erschweren den täglichen Umgang mit
Herausforderungen und sind jeweils angstgesteuert. „Sei
perfekt“ ist zum Beispiel ein überzogener Leistungsanspruch
über den Selbst-bestätigung gesucht wird. Er ist gleichermaßen
genährt von der Angst vor Fehlern und Misserfolg.
Perfektion ist in vielen Arbeitsbereichen wichtig. Aber die
stressverschärfende Haltung „Sei perfekt“wird dann zum
Problem, wenn sie auch auf andere oder alle Lebensbereiche
übertragen wird.
Dies führt dauerhaft zur Überforderung und zur Erschöpfung.
Im Rahmen einer kognitiven Umstrukturierung sucht der
Betroffene eine alternative Haltung sowie alternative
entlastende Formeln.
Zum Beispiel: „Auch ich darf Fehler machen!“ Oder „So gut, wie
möglich, aber auch so gut, wie nötig!“ „Weniger ist manchmal
mehr!“
Vermeidungsorientierte Problembewältigungs-strategien sind
wohl jedem Menschen bekannt, der sich ernsthaft mit seiner
eigenen Persönlichkeit befasst. Humorvoll spricht man vom
„inneren Schweinehund“. Kommt es je doch zur Verdrängung
von Problemen, dann entwickeln sich destruktive Strukturen.
Ziel ist es daher, die Schwierigkeiten als Heraus-forderungen zu
sehen und problemorientierte Bewältigungsstrategien zu
entwickeln. Bewältigte Probleme erhöhen die Kompetenz,
stärken das Selbstvertrauen und bieten Erfolgserlebnisse.
Fazit
Eine gewachsene Lebenssituation hat stets viele Seiten und
Aspekte und die Entstehung von Problemen hat zahlreiche
Einflussfaktoren. Einseitige Betrachtungsweisen und
vereinfachtes Ursache-Wirkungs-Denken (wer hat Schuld?)
bringen keine Hilfestellung. Komplexe und ganzheitliche Ansätze
sind hier wichtig, um Lebensgeschichten und schwierige
Lebenssituationen zu verstehen.
Solche Ansätze gibt es und ich werde zukünftig einen
interessanten Ansatz in meinem Blog vorstellen.
Sehr viele Menschen wissen: „ein Problem kommt selten allein!“
Und wenn es an Ressourcen fehlt, dann wird ein Loch mit einem
anderen gestopft. Das ist in der entsprechenden Situation
nachvollziehbar, erscheint sogar oft logisch, bzw. einfach
notwendig. Am Ende jedoch findet man einen Teppich voller
Löcher vor. Kann man dies einem Betroffenen vorwerfen?
Man werfe einen Blick in die Politik, in die Wirtschaft und
Finanzwelt, Energiewirtschaft und auf Natur und Umwelt.
Politiker stopfen Haushaltslöcher mit Geld aus anderen Töpfen.
Dieses Geld fehlt dann wieder bestimmten
Bevölkerungsgruppen (in der Zukunft). Zum Beispiel bei den
Renten.
Elektromobilität hier und saubere Luft vor der eigenen Tür,
Kinderarbeit dort und Umweltverschmutzung weit entfernt.
Probleme scheinen Attraktionsenergie zu besitzen … sie ziehen
weitere Probleme an. Dann kommt eins zum anderen. Und ein
Tunnelblick entsteht leicht.
Der arbeitslose Mensch, sowie jegliche Person in schwierigen
Lebenssituationen sollte daher nicht vor-verurteilt werden. Denn
nur, weil auf meinem Weg bisher keine Steine lagen, heißt es
nicht, dass ich nicht auch mal stolpern könnte.
Langzeitarbeitslosigkeit wird daher von zahlreichen Problemen
auf finanzieller, gesundheitlicher und sozialer Ebene begleitet.
Diese „Baustellen“ binden sehr viel Energie und benötigen
ständige Aufmerksamkeit. Diese Energie fehlt dann für
berufliche Zielplanung und Veränderung.
Daher macht hier auch ein Life- und Sozialcoaching Sinn und
unterstützt in schwierigen Lebensphasen.
Dennoch liegt jedes Problem sowie dessen Lösung im Blick des
Betrachters. Der Blickwinkel und die eigenen Bewertung der
Situation und der eigenen Ressourcen entscheidet letztendlich,
was ein Problem ist oder eine Herausforderung. Daher ist es
wichtig, eine andere Haltung zur Lebenssituation und zur
eigenen Person zu finden, um mögliche Auswege zu erkennen.
Knut Diederichs, 01.07.2021
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