Persönlichkeit hat viele Facetten
„Erkenne dich selbst“ (Gnothi seauton) oder
„Erkenne, was du bist“ verkündete eine
Schrift am Apollontempel in Delphi ca. Mitte
des 5. Jahrhunderts vor Chr.
Offensichtlich war es den Menschen schon vor ein paar
tausend Jahren wichtig, sich selbst zu erkennen. Oder
zumindest einigen Menschen. „Wer bin ich und wenn ja,
wie viele?“ ist nicht nur humorvoll gemeint, sondern hat
selbstverständlich einen ernsthaften Hintergrund.
Was ist das „Ich“, welches zu entdecken sich der Mensch
zur Aufgabe gemacht hat? In asiatischen Kulturen hat sich
die Meditation entwickelt und im Westen finden Yoga und
andere kontemplative Praktiken zur Selbsterfahrung
großes Interesse.
Und gleichzeitig wird doch so vieles dafür getan, damit
anderen das eigene Ich verborgen bleibt.
Nicht jeder erhält einen Blick ins Innere der eigenen
„Seele“ … könnten sich vielleicht doch dunkle
„Abgründe“ auftun, die niemand sehen darf?
Gibt es überhaupt ein „Ich“ von dem wir so
selbstverständlich sprechen? Muss an der
„Persönlichkeit“ eigentlich gearbeitet werden? Wird sie
entdeckt, entwickelt, entfaltet oder sollte ich mich von ihr
lösen?
Dazu gibt es tatsächlich ganz unterschiedliche Ansichten
in der Psychologie.
In unserer Gesellschaft gibt es offensichtlich einen
zunehmenden Trend, die Persönlichkeit „frei“ zu wählen,
sie sogar zu designen. Und bis zu einigen Millimetern in
die Tiefe geht das auch durchaus, ohne dass es zu
ernsthaften gesundheitlichen Schäden führt.
Aber befindet sich die „Seele“ nicht ganz tief in unserem
Innern? Reicht es dann, nur die Oberfläche
aufzupolieren? Ist die Seele das gleiche, wie die
Persönlichkeit oder der Charakter oder das Selbst, das
Naturell, das Wesen, die Individualität, die Identität?
Alleine schon die Begriffsvielfalt deutet auf eine gewisse
Herausforderung bei diesem Thema hin.
Oder ist es vielleicht doch viel einfacher, so wie es
Plutarch formulierte. „Der Charakter ist weiter nichts als
eine langwierige Gewohnheit.“
Persönlichkeit hat viele Facetten
Nicht nur eine Persönlichkeit hat viele Facetten, sondern
auch das Thema „Persönlichkeit“ sowie das Phänomen
„Persönlichkeit“ als Forschungsgebiet haben viele
Facetten.
Die Frage nach der menschlichen Natur, ist vielleicht so
alt, wie die Menschheit selbst. Und daher haben sich auch
die unterschiedlichsten Vorstellungen und Modelle über
die „menschliche Seele“ entwickelt.
Die alten Griechen sprachen von den Temperamenten, die
durch Säfte hervorgerufen wurden. Der Choleriker (Galle)
ist besonders als Chef bei vielen Mitarbeitern nicht sehr
beliebt.
Das Wort „Person“ in den europäischen Sprachen geht auf
das lateinische Wort „persona“ zurück.
Dieses wurde hauptsächlich im Sinne von „Rolle,
Charakter, Maske“ gebraucht. Im alten Rom trugen die
Schauspieler Masken (persona), die dem Publikum die
Eigenschaften der Person, die sie darstellten, zeigen
sollten. So gab es zum Beispiel Masken mit lachenden,
weinenden oder wütenden Gesichtern, die den jeweils
typischen Charakter einer Rolle erkennbar und
vorhersehbar machten.
„Bedenke, dass du nur der Schauspieler bist in einem
Stück, das der Spielleiter bestimmt. (…) Deine Aufgabe ist
es nur, die dir zugeteilte Rolle gut zu spielen; sie
auszuwählen, steht einem andern zu.“ (Epiktet, 50 bis 138
n. Chr.)
Für die Behavioristen war die Persönlichkeit eine „Black
Box“. Man schaute, was hinein ging und was rauskam (der
Reiz und die Reaktion). Denn das alleine glaubte man,
messen zu können.
Persönlichkeitsmodelle existieren viele und eine
einheitliche Definition von „Persönlichkeit“ gibt es in der
Psychologie bis heute nicht. Der Psychologe Allport hat
schon in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts
versucht, eine Fülle von über 50 verschiedenen
Formulierungen aus Philosophie, Psychologie, Theologie
und Soziologie zu Kategorien zusammen zu fassen und
deren Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Daran ist zu
erkennen, dass in der Wissenschaft, wie im Alltagsdenken
und -erleben eine Vielfalt an Vorstellungen existiert, was
der Mensch im Inneren sei.
Für das Berufsleben will man seine Stärken (er)kennen
und gewinnbringend einsetzen. Auch hier haben sich
vielfältige Begrifflichkeiten gebildet: Kompetenzen,
Qualifikationen, Schlüsselqualifikationen, Softskills,
Handlungskompetenzen, Individualkompetenzen u.v.m.
Höher, weiter, schneller soll es dabei gehen … immer
mehr Leistung … die Konkurrenz ist groß.
Wer sich gut verkauft, liegt vorne. An der Persönlichkeit
feilen, damit sie wie ein feiner Schlüssel die gewünschten
Türen öffnet. Persönlichkeit als Werkzeug …
Persönlichkeit als Alleinstellungsmerkmal …
Persönlichkeit als Marke!
Und dennoch, eine gesunde und stabile Persönlichkeit ist
für ein gesundes und erfüllendes Leben wichtig.
Aber wie entsteht denn überhaupt eine Persönlichkeit?
Um das zu beantworten müssen wir ja erst einmal
bestimmen, was Persönlichkeit überhaupt ist.
Dazu dient uns eine Definition aus dem Duden:
„Persönlichkeit ist die umfassende Bezeichnung für die
Beschreibung und Erklärung des einzigartigen und
individuellen Musters von Eigenschaften eines
Menschen, die relativ überdauernd dessen Verhalten
bestimmen.“
Allport sieht zusätzlich noch eine „dynamische
Organisation“, die im Menschen wirksam ist und Erich
Fromm gibt einen Hinweis auf „ererbte und erworbene
psychische Eigenschaften“. Damit wird die Anlage-
Umwelt-Thematik in den Fokus gerückt.
Der russische Psychologe Alexei Leontjew (1903 – 1979) geht
noch einen Schritt weiter und schreibt in seinem
Hauptwerk „Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit“: „der
Mensch tritt nur als ein mit bestimmten natürlichen
Eigenschaften und Fähigkeiten begabtes Individuum in
die Geschichte ein … und nur als Subjekt
gesellschaftlicher Beziehungen wird er zur
Persönlichkeit.“
Das bedeutet, die Persönlichkeit wird durch den
Austausch mit der Umwelt erzeugt.
Mit Definitionen könnten wir allerdings Seiten füllen.
Das liegt an den verschiedenen psychologischen Schulen
mit ihrem unterschiedlichen Verständnis des Menschen.
Der Gründer einer psychologischen Schule ist dabei nicht
frei von seiner eigenen Biografie. Und das sind Sie nicht
und ich bin es auch nicht.
Welche Disziplinen beschäftigen sich mit dem Thema
Persönlichkeit? Welche verschiedenen Einflüsse vermutet
man daher?
In differenzierter Form spiegelt sich hier zudem das
Anlage-Umwelt-Modell wider.
Wie entsteht die Persönlichkeit?
Der Säugling beißt in seinen Schnuller oder in einen
anderen Gegenstand. Dann beißt der Säugling in seinen
Finger und es tut weh. Er beißt mal hier drauf, mal da
drauf, dann wieder auf einen Finger und es tut erneut
weh. Vereinfacht gesagt, auf solchen und ähnlichen
Wegen bildet sich die Wahrnehmung eines „Körper-Ich“
heraus.
Der Säugling kann Anfangs zwischen Ich und Umwelt noch
nicht unterscheiden. Daher sagte schon Freud, das frühe
Ich sei zuerst und vor allem ein „Körper-Ich“ (erste Form
der Identität).
Der Säugling wird gesteuert von seinen Trieben, die das
Überleben sichern und lebt nach dem Prinzip, Unlust zu
vermeiden und Lust zu befriedigen.
Auf der Basis der sensomotorischen Funktionen und
Fähigkeiten des Körpers bilden sich nach und nach
komplexere Erfahrungswerte heraus. Objekte werden als
solche erkannt und vom Körper getrennt
wahrgenommen. Sie bleiben zudem mehr und mehr in
Erinnerung („Objektpermanenz“ nach Piaget).
In dieser Trennung zwischen Subjekt und Objekt kann der
Säugling daher und gerade erst dann lernen, auf Objekte
einzuwirken.
Auf dieser Grundlage, sowie mit der Entwicklung der
Sprache, entstehen höhere mentale Funktionen.
Mit der Sprache entsteht eine neue Welt, die aus
Symbolen, Begriffen und Ideen besteht. Das entstehende
mentale Ich kann äußere Objekte und auch den Körper
mit seinen Vorgängen zum Gegenstand seiner
Betrachtung machen. Diese Objekte existieren dann auch
weiter ohne ihre Anwesenheit. Dadurch entsteht eine
neue, abstraktere Form der Einflussnahme, mit der
Objekte und Vorgänge gesteuert werden können. Zum
Beispiel, das Aufschieben von Bedürfnissen oder die
Entscheidung, auf etwas zu verzichten, zuliebe einer
„höheren“ Errungenschaft (Sublimierung).
Was hier beschrieben wird, geht auch mit einer weiteren
wichtigen Entwicklung einher: der Erweiterung von
Perspektiven. Das Kind erweitert kontinuierlich seine
Perspektiven und lernt, das Leben weniger egozentrisch
zu sehen und Perspektiven „von außen“ sowie aus der
Sicht anderer einzunehmen.
Ja, ich weiß. Diese Fähigkeit lässt so manch ein
Erwachsener vermissen.
Ab ca. vier Jahren beginnt das Kind unendlich viele
Fragen zu stelle. Fragen, auf die wir als Erwachsene erst
gar nicht (mehr) kommen und es werden Dinge in einer
Art hinterfragt, die uns erstaunen lassen. In der Schule
lernen dann die Kinder leider oft, dass manche der
Fragen dumm oder falsch seien. Und sie lernen, welche
Fragen die richtigen sind. Das reduziert leider deren
Intelligenz enorm. Staunen und Fragen stellen ist der
Beginn einer jeden Wissenschaft.
Sprache ist zudem ein äußerst wichtiges Thema und da
wir die Sprache eines Landes und einer Kultur so
selbstverständlich lernen – und viele Kinder lernen zwei,
drei Sprachen mühelos parallel – ist uns nicht bewusst,
welches Wertesystem wir damit in uns aufnehmen.
Sprache formt das Denken und das Denken „formt“ dann
wiederum so vieles mehr. Das wäre vielleicht ein Thema
für einen weiteren Blog.
Nur zwei Zitate dazu:
„Wir sind, was wir denken. Alles, was wir denken, entsteht
mit unseren Gedanken.
Mit unseren Gedanken machen wir die Welt!“ (Gautama
Buddha)
„Angehörige einer bestimmten Kultur kodifizieren die
Erfahrungen gemäß den Kategorien des jeweiligen
linguistischen Systems und erfassen nur das an
Wirklichkeit, was ihnen kodifiziert begegnet.! (Dorothy
Lee, 1950, amerikanische Anthropologin)
Die Psychologin, Janes Loevinger, hat die Stufen der
Kognitiven Entwicklung Piagets erweitert und in das
Erwachsenenalter hinein fortgeschrieben. Piagets
höchste Stufe ist die, des formal operationalen
Bewusstseins, die sich ab 12 Jahren entwickelt. Der Mensch
wird fähig, abstrakte Konzepte zu verstehen und zu
entwickeln. Er entwickelt die Fähigkeit zum deduktiven
Denken und er kann über sich, das Leben und die Welt
reflektieren.
Loevinger beschreibt in insgesamt neun Phasen die
Fähigkeit zur und die Entwicklung von erweiterten
Perspektiven, in denen „der andere“, das Umfeld
verstärkt mit einbezogen und in seiner Autonomie und
Freiheit respektiert wird.
Loevinger geht nicht von einer „psychischen Instanz“, wie
ein „Ich“ aus, sondern von einem Prozess, der die
Gedanken und Erfahrungen eines Menschen organisiert.
Die Entwicklung findet ein Leben lang statt.
Diesem Ansatz oder Modell liegt ein konstruktivistisches
Entwicklungsverständnis zugrunde. Das bedeutet, dass
Strukturen, zum Beispiel Denkstrukturen, schrittweise
aufgebaut werden, die eine auf der Basis der anderen, die
vorherige in der nächsten aufgeht, also integriert wird,
differenzierter und komplexer und damit auch stabiler
wird.
Loevinger war eine Schülerin von Erik H. Erikson, der
ebenfalls ein Phasenmodell der menschlichen
Entwicklung formuliert hat. Dieses stellt eine
biodynamische und psychosoziale Entwicklung dar, die in
ganz bestimmten Phasen ablaufen sollte, bei denen die
einzelnen Phasen, jede für sich, ihre ganz eigene Zeit
benötigt, in der sie zur Entfaltung kommen sollte. Es gibt
einerseits einen biologischen, also auch angeborenen
Aspekt, den es zu beachten und zu leben gilt und man
kann nicht einen Schritt vor dem nächsten machen.
Ansonsten entstehen Störungen in der Persönlichkeit.
Diese Phasen werden von Krisen unterbrochen oder eher
begleitet (sie müssen nicht heftig sein, können es aber, sie
können ganz leicht im Hintergrund wirken), in denen es
zur Neustrukturierung, zur Neustabilisierung und zur
Entwicklung auf eine nächst höhere Stufe kommt. Damit
einher gehen neue Werteentwicklungen sowie die
Identifikation mit einer neuen Rolle. Erikson baut auf
den Theorien Freuds auf, dehnt die Entwicklung der
Phasen allerdings auf acht aus und stellt die Entwicklung
als einen Prozess dar, der bis ins Erwachsenenalter hinein
reicht, genau genommen, das gesamte Leben hindurch
nicht endet. Und er hat einen soziokulturellen Aspekt
hineingebracht, der die gegenseitige Beeinflussung von
Kindern und Eltern, auch über mehrere Generationen
hinweg und die Beeinflussung der Gesellschaft auf das
Leben des Individuums beinhaltet (Erik H. Erikson:
Identität und Lebenszyklus)
Modelle der Persönlichkeit
Die westliche Psychologie ist vorzugsweise eine „Ich-
Psychologie“. In der Psychologie, aber auch im
Alltagsverständnis werden häufig „Persönlichkeit“ und
„Ich“, aber auch der Mensch an sich mit der
Persönlichkeit gleichgesetzt. In der östlichen Psychologie,
zum Beispiel im Buddhismus, ist dies anders. Da ist die
Persönlichkeit etwas, mit der man sich identifiziert (hat).
Und der Weg der Entwicklung ist die „Des-Identifikation“
mit der Persönlichkeit und damit auch mit dem Ich.
Hirnforschung
Nun gibt es aber auch aus einer ganz anderen und
modernen wissenschaftlichen Disziplin neue
Erkenntnisse und Aussagen, die vielleicht viele Menschen
verunsichern werden. Nämlich aus der Gehirnforschung.
Da behaupten Wissenschaftler, so etwas, wie ein Ich gäbe
es gar nicht.
Zumindest konnte man bisher kein Ich finden. Also keine
zentrale, alles steuernde und übergeordnete Instanz.
Stattdessen fand man heraus, dass unsere Funktionen,
Wahrnehmungen und Reaktionen aus unterschiedlichen
Gehirnarealen gesteuert werden. Und dass die
Großhirnrinde (unser bewusstes Zentrum) nur
nachträglich erklärt, was schon im Gehirn an anderer
Stelle „entschieden“ wurde.
Der Biologe und Hirnforscher, Gerhard Roth, kommt
aufgrund eigener und Experimente weiterer
Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass es so etwas, wie
einen freien Willen gar nicht gibt. „Der freie Wille ist nur
eine nützliche Illusion“.
Ein allem zugrunde liegendes Ich gibt es nicht, sondern
nur ein oszillierendes Bündel von unterschiedlichen Ich-
Zuständen. Roth beschreibet acht Ich-Zustände. Diese
lassen sich unterschiedlichen, sich überlappenden
Netzwerken zuordnen.
Das Körper-Ich
gewährleistet das Bewusstsein, dass der Körper, in dem
ein Mensch steckt, sein Körper ist.
Das Verortungs-Ich
gewährleistet das Bewusstsein, sich gerade an diesem Ort
und nicht woanders zu befinden.
Das perspektivische Ich
vermittelt dem Menschen das Bewusstsein, den
Mittelpunkt der von ihm erfahrenen Welt zu bilden.
Das Ich als Erlebnissubjekt
vermittelt dem Menschen das Bewusstsein, er selbst habe
Wahrnehmungen, Ideen, Gefühle, und nicht etwa ein
anderer.
Das Autorschafts- und Kontroll-Ich
vermittelt dem Menschen das Bewusstsein, dass er
Verursacher und Kontrolleur seiner Gedanken und
Handlungen ist.
Das autobiographische Ich
gewährleistet dem Menschen das Bewusstsein, auch heute
derjenige zu sein, der er gestern war, und lässt ihn in
seinen verschiedenen Empfindungen Kontinuität
erleben.
Das selbst-reflexive Ich
macht es möglich, dass der Mensch über sich selbst
nachdenkt.
Das ethische Ich - das Gewissen
vermittelt dem Menschen das Bewusstsein, es gebe in ihm
eine Instanz, die ihm sagt oder befiehlt, was er zu tun und
zu lassen habe.
Diese verschiedenen Ich-Zustände erleben wir in aller
Regel als ein einheitliches Ich. Gleichzeitig empfinden
wir jedoch ein Auf und Ab der unterschiedlichsten Selbst-
Empfindungen, in denen von einem Moment auf den
anderen das Körperliche, das Perzeptive, das Emotionale
oder das Kognitive vorherrscht. Die verschiedenen Ich-
Zustände verbinden sich in ständigem Wechsel
miteinander und schaffen so den "Strom der Ich-
Empfindung" (Roth)
"Die Wirklichkeit und ihr Ich sind Konstruktionen,
welche das Gehirn in die Lage versetzen, komplexe
Informationen zu verarbeiten, neue, unbekannte
Situationen zu meistern und langfristige
Handlungsplanung zu betreiben.“
Typenlehre
Wir drehen die Zeit zurück um ca. 2500 Jahre. Auch damals
gab es schon Persönlichkeitstheorien, die bis heute noch,
mehr oder weniger, angewandt werden und zudem sehr
praktikabel sind. Viele kennen jemanden, der oder die
leicht aufbrausend ist, schnell „auf 180“ und dem eigenen
Ärger gerne Luft macht. Einen solchen Menschen nennt
man dann „cholerisch“. Man sagt zwar: „Hunde, die
bellen, beißen nicht“, aber dennoch ist der Umgang mit
diesem Typus für viele nicht so leicht.
Die Temperamente
Die Lehre der „Temperamente“ geht hauptsächlich zurück
auf Galen und Hippokrates (dieser lebte 460 – 377 v.Chr.).
Hippokrates ging von einer körperlichen Disposition aus,
die darauf beruht, dass verschiedene Körpersäfte im
Menschen vorherrschen. Beim Choleriker ist es die gelbe
Galle („er spuckte Gift und Galle“), der Melancholiker hat
einen Überschuss an schwarzer Galle und erlebt tiefe
Gefühle, der Phlegmatiker (phlegma = Schleim) ist
antriebsschwach, der Sanguiniker (sangus = Blut) ist eine
sorglose und unbeständige Persönlichkeit.
Die vorherrschenden Säfte bestimmen den Typ des
Menschen und sein Verhalten. Aber der Zusammenhang
zwischen diesen Säften und einer bestimmten
Persönlichkeit konnte niemals nachgewiesen werden. Die
moderne Temperamentsforschung wurde von den
Kinderpsychiatern Thomas & Chess (1980) mit ihrer New
York Longitudinal Study (NYLS) neu begründet. In dieser
Studie konnte man bereits bei Kleinkindern in den ersten
Lebensmonaten neun Temperamentsdimensionen
bestimmen: Ablenkbarkeit, Aktivität,
Annährung–Rückzug, Anpassungsfähigkeit,
Aufmerksamkeitsdauer, Reaktionsintensität, sensorische
Empfindlichkeit, Stimmungslage und Tagesrhythmus.
Typenlehren gibt es zahlreiche und sie sind auch
deswegen beliebt, weil man durch die Typisierung schnell
ein vermeintlich eindeutiges Bild erhält, welches
scheinbar leicht anzuwenden ist. In der Anwendung im
Alltag jedoch werden sie dann wieder sehr komplex.
Außerdem gibt es Mischtypen und dadurch werden diese
„Persönlichkeiten“ wieder facettenreicher.
Der jeweilige Typus reagiert entsprechend in
verschiedenen Situationen und bei verschiedenen
Anforderungen: Kommunikation, Interaktion,
Arbeitsverhalten, Entscheidungsverhalten,
Konfliktverhalten, … und selbstverständlich ist dies alles
keine Mathematik.
Modelle bleiben Modelle, die Realität ist stets sehr viel
komplexer. Eine Landkarte gibt eine Orientierung. Aber
erst wenn man den Weg geht oder fährt, erlebt man die
Strecke und Umgebung mit allen Sinnen und Reizen. Es
geht auf und ab, die Landschaft verändert sich.
Welche Typenmodelle gibt es noch?
Man zählt dazu die Astrologie, Numerologie, die
Physiognomie, Naturell-Lehre und Körpertypen-Lehre.
Aus Indien sind ebenfalls Körpertypen (Doshas) bekannt:
Vata, Pitta und Kapha. Sie werden eher unter
medizinischen Gesichtspunkten gesehen, aber
unterscheiden sich ebenfalls im Verhalten. Auch hier
kennt man Einflüsse durch den vorherrschenden
Stoffwechsel und die Heilungserfolge bei chronischen
Krankheiten sind äußerst hoch. In der chinesischen
Medizin gibt ebenfalls Typenmodelle, die sich auf die
Elemente beziehen: Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser.
Danach wird gekocht und behandelt.
Körperorientierte Modelle konnten sich in der westlichen
Psychologie nie so recht durchsetzen. Das mag auch daran
liegen, dass der Verstand mit seinen Funktionen und
Leistungen in der westlichen Welt einen höheren
Stellenwert besitzt und weil mit Descartes (1596 – 1650) eine
Trennung zwischen Körper und Seele stattgefunden hat:
„Ich denke also bin ich“. Diese Annahme einer Trennung
zwischen Körper und Seele ist tief in das Denken von
Medizinern und Naturwissenschaftlern eingedrungen.
Aber der Körper hat weitaus mehr Einfluss auf unser
Verhalten als viele ahnen. Denn der Körper ist die Quelle
aller physischen Energie, die uns versorgt und er hat
seine speziellen Bedürfnisse. Besonders dann, wenn die
natürlichen körperlichen Funktionen unterdrückt
werden. Bedürfnis nach Bewegung, Ausdruck, Nähe,
Distanz, Sexualität, … Es entstehen Störungen, die tief auf
die Psyche einwirken. Auf dieser Beobachtung und
Erkenntnis haben sich körperorientierte
Therapieverfahren entwickelt.
Was auch gerne vergessen wird: das Gehirn ist ein Teil des
Körpers. Und bevor dieses in der Embryonalentwicklung
„vollständig“ ausgebildet ist, sind andere Organe schon
früher voll funktionstätig. Zum Beispiel das Ohr (ab der
zehnten Schwangerschaftswoche). Was das kleine und
noch unvollständige Wesen wohl schon so früh hören
möchte?
Uns allen bekannte Formulierungen, wie “ich höre auf
mein Herz“ oder „das war eine Bauchentscheidung“,
werden durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse
bestätigt. Zum Beispiel spricht man vom Herzen sowie
vom Darm als zweites Gehirn. Denn es finden sich hier
sehr komplexe neurologische Strukturen und hormonelle
Aktivitäten, die denen des Gehirns entsprechen. Beide
Organsysteme nehmen weitaus stärkeren Einfluss auf das
Gehirn als bisher bekannt und haben zudem ein
Eigenleben. Sogar die Zusammensetzung von Bakterien
im Darm haben wahrscheinlich Einfluss auf unser
Verhalten.
C.G. Jung
C.G. Jung (1875 – 1961) war ein Schüler Freuds, trennte sich
jedoch von Freud aufgrund unterschiedlicher Ansichten
zum Thema Sexualität und Freuds Libido-Theorie.
Aufgrund seiner sehr aufmerksamen Beobachtungsgabe
erkannte er bei seinen Mitmenschen zwei
unterschiedliche Einstellungen zu sich selbst und ihrer
Umwelt.
Der eine Typ orientiert sich stark an seine Umwelt und
den Mitmenschen, ist im Denken und Handel nach außen
orientiert, kontaktfreudig und bestrebt, auf seine Umwelt
aktiv einzuwirken.
Der andere Typ ist eher nach innen gerichtet, beschäftigt
sich mehr mit seinen inneren Vorgängen, Denken und
Fühlen, ist eher zurückhaltend, was Kontakt betrifft,
zögernd und verschlossen.
Diese beiden Idealtypen nennt er:
Extraversion und Introversion
Idealtypen, weil sie jeweils am Ende eines Kontinuums
stehen.
Neben diesen beiden Grundtypen benennt C. G. Jung noch
vier Grundfunktionen der Psyche, die unabhängig von
Extraversion und Introversion auftreten. Es handelt sich
dabei um die „rationalen Funktionen“ des Denkens und
Fühlens (rational, weil wertend) und die „irrationalen
Funktionen“ des Empfindens und Intuierens (irrational,
weil nur wahrnehmend).
Daraus ergeben sich acht Persönlichkeitstypen:
Jung war ein Psychoanalytiker und damit ist sein Modell
in erster Linie ein psychodynamisches Modell. Aber es
beschreibt auch eine Typologie mit der Unterscheidung
des extravertierten und introvertierten Menschen sowie
der vier Funktionstypen.
Jung hat weiterhin sogenannte Archetypen beschrieben,
die aus dem kollektiven Unbewussten stammen.
Für Jung gab es auch bewusste und unbewusste Zustände.
Aber er unterschied zudem ein persönliches von einem
kollektiven Unbewussten. In diesem kollektiven
Unbewussten ist das geistige und seelische Erbe der
Menschheitsgeschichte gesammelt. Ähnlich, wie es eine
biologische Evolution gibt, in der die Geschichte der
Entwicklung der Lebewesen enthalten ist.
Da die Menschen durch die Geschichte hindurch stets
ähnliche und gleiche Erfahrungen machen, bilden sich
psychische Grundmuster heraus, die wie Grundmotive auf
die menschliche Psyche wirken: die Archetypen. Jung
beschreibt zwölf dieser Archetypen.
Prof. Hans Eysenck
Der deutsch-britische Psychologe, Hans Eysenck (1916 –
1997), hat das Modell der Temperamente sowie die
Körpertypen nach Ernst Kretschmer (1888 – 1964) mit den
beiden Einstellungstypen „Introversion“ und
„Extraversion“ des Psychoanalytikers, C.G. Jung,
verbunden und einen weiteren Aspekt hinzugefügt: den
Neurotizismus. Das bedeutet das Spektrum, in dem ein
Mensch eher „stabil“ oder eher „instabil“ in seinem
Verhalten ist.
Eysenck geht davon aus, dass die Neigung zu Introversion
und Extraversion, sowie auch Neurotizismus genetisch
bedingt ist und ihren Sitz im Gehirn und zentralen
Nervensystem hat.
Bei Introvertierten ist das Nervensystem eher
ansprechbar und erregbar. Wird emotional auf
Ereignisse reagiert, tritt die neurotische Dimension mehr
in den Vordergrund. Introvertierte neigen aufgrund ihrer
Sensibilität mehr zu Besorgnis. Bei extravertierten
Menschen ist das Nervensystem weniger erregbar und
daher suchen sie eher nach äußeren Stimulatoren und
fühlen sich im Kontakt mit anderen Menschen eher wohl.
Nach Eysenck ist die Persönlichkeit „die mehr oder
weniger stabile und dauerhafte Organisation des
Charakters, Temperaments, Intellekts und Körperbaus
eines Menschen, die seine einzigartige Anpassung an die
Umwelt bestimmt. Der Charakter eines Menschen
bezeichnet das mehr oder weniger stabile und dauerhafte
System seines konativen Verhaltens (des Willens); sein
Temperament das mehr oder weniger stabile und
dauerhafte System seines affektiven Verhaltens (der
Emotion oder des Gefühls); sein Intellekt das mehr oder
weniger stabile und dauerhafte System seines kognitiven
Verhaltens (der Intelligenz); sein Körperbau das mehr
oder weniger stabile System seiner physischen Gestalt und
neuroendokrinen (hormonalen) Ausstattung“.
Eysencks Persönlichkeitszirkel
(Eysencks Persönlichkeitsmodell ist weniger ein
Typologisches, sondern ein Faktorenmodell. Das heißt, es
wurde aufgrund einer Vielzahl an Eigenschaften auf
wenige Dimensionen reduziert.)
Eduard Spranger
Es gibt auch Typenmodelle, die sich mit einer geistigen
Grundausrichtung beschäftigen. Zum Beispiel, welche
Werte-Ausrichtung ein Mensch favorisiert.
Eduard Spranger (1882 – 1963) war ein deutscher Pädagoge
und hat maßgeblich daran mitgewirkt, dass die
Pädagogik als eine eigenständige akademische Disziplin
anerkannt wurde. Zudem beeinflusste er die
Lehrerausbildung in Deutschland.
Spranger geht von einer sechsfachen Gliederung der
menschlichen Kultur aus, woraus sich sechs geistige
Grundhaltungen herauskristallisieren:
•
Theoretischer Mensch
•
Ökonomischer Mensch
•
Ästhetischer Mensch
•
Politischer Mensch
•
Sozialer Mensch
•
Religiöser Mensch
Bei Typenmodellen spricht man stets von Idealtypen. So
ist das auch in diesem Fall. Es treten in der Realität meist
komplexe Typen auf. Der Theoretiker mit politischer oder
der Techniker mit ökonomischer Ausrichtung.
Der „person-job-fit“ Ansatz
John L. Holland (1919 – 2008) war ein amerikanischer
Psychologe, der ein Karriereentwicklungsmodell
entwickelt hat. Dieses Modell basiert darauf, dass
Menschen ebenfalls Neigungen zu einer bestimmten
Denk- und Wertestruktur haben, die in der Persönlichkeit
verankert sind. Je nach Neigung entscheiden sie sich für
ein bestimmtes berufliches Umfeld. Andersherum gesagt
eignen sie sich demnach auch für ein bestimmtes
berufliches Umfeld ganz besonders, weil sie aufgrund
ihrer Persönlichkeitsstruktur hier am besten passen.
Dieser Ansatz ist auch bekannt unter der Abkürzung
RIASEC-Modell.
Holland unterscheidet sechs Grundpersönlichkeiten:
Welcher Typ passt zudem zu welchem Umfeld:
Vielen ist dieser Ansatz auch im Rahmen eines
Berufsinteressen-Tests bekannt und wird gerne bei
Berufseinsteigern eingesetzt.
Tiefenpsychologie
Sigmund Freud
Sigmund Freud (1856 – 1939) entwickelte ein Modell der
Persönlichkeit, welches man als psychodynamisches
Modell, aber auch als Strukturmodel bezeichnen kann.
Die Persönlichkeitsstruktur nach Freud besteht aus drei
Instanzen: dem Es, dem Ich und dem Über-Ich. Das
psychodynamische ergibt sich aus den ständigen
Konflikten zwischen dem Es und dem Über-Ich sowie der
Realität, zwischen denen das Ich vermittelt.
Der Körper mit seinen Trieben, die zur Befriedigung
drängen (Lustprinzip) ist die Quelle des Es. Das
Neugeborene strebt aus dem Überlebensprinzip heraus
nach Lusterfüllung und will Unlust vermeiden. Durch die
Interaktion mit der Umwelt entstehen jedoch nach und
nach Einschränkungen, mit denen das kleine Wesen
zurechtkommen muss. Dies stellt Freud als den Konflikt
zwischen dem Es und dem Über-Ich dar. Das Es wird in
seinem Bestreben eingeschränkt und Triebe müssen
verdrängt werden. Dadurch entsteht Angst, welche die
erste Grundlage des Über-Ich darstellt. Das sich bildende
Ich (Realitätsprinzip) vermittelt zwischen diesen beiden
Instanzen und den Forderungen aus der Realität, indem
es einen Abwehrmechanismus entwickelt.
Dazu stehen ihm verschiedene Techniken zur Verfügung:
Identifikation
Der Mensch identifiziert sich mit einer stärkeren
Persönlichkeit, um die eigenen Selbstzweifel zu
überdecken.
Projektion
Das, was jemand an sich selbst ablehnt, wird auf andere
Personen projiziert. Unliebsame Eigenschaften an einem
selbst werden in anderen Menschen erkannt, statt in
einem selbst.
Rationalisierung
Fehlverhalten wird mit vermeintlich rationalen Gründen
erklärt.
Reaktionsbildung
Unliebsame Empfindungen werden ins Gegenteil
umgewandelt (jemand engagiert sich für Nächstenliebe,
weil er/sie die eigenen Aggressionen nicht wahrhaben
will.
Regression
Rückfall in frühere, eigentlich bereits abgeschlossene
Entwicklungsphasen.
Sublimation
Wenn primitive, sozial nicht akzeptierte Arten der
Befriedigung von Bedürfnissen in sozial akzeptable
umgewandelt und somit neutralisiert werden.
Verdrängung
Unangenehme und schmerzhafte Empfindungen werden
aus dem Bewusstsein verdrängt.
Verschiebung
Negative Empfindungen werden nicht auf den/die
UrheberIn gerichtet, sondern auf ein Ersatzobjekt.
Widerstand
Verdrängte Inhalte drängen zurück ins Bewusstsein. Der
Versuch, sich dagegen zu wehren, wird als Widerstand
bezeichnet.
Abwehrmechanismen sind nach Freud bis zu einem
gewissen Grad notwendig, damit sich eine Persönlichkeit
heranbilden kann, die in einem gesellschaftlichen
Kontext funktioniert. Ein Zuviel an Verdrängung führt
jedoch zu Neurosen oder sogar zu Psychosen. Das
erwachsene Ich richtet sich nach moralischen Prinzipien,
es stellt das Realitätsprinzip dar und überprüft sich
kritisch unter Beachtung des Über-Ich und des Es.
Freud hatte viele Schüler und seine Psychoanalyse fand
weite Verbreitung. Aber es gab auch immer wieder
Schüler, die sich in Teilen von Freuds Theorien oder
Ansätzen distanziert haben oder sie in Frage stellten. Sie
gingen andere Wege und wurden meist schon bald aus der
Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen.
So, wie C.G. Jung, Alfred Adler oder Wilhelm Reich.
Alfred Adler
Alfred Adler (1870 – 1937) gründete daher eine eigene
Vereinigung und begründete eine neue Psychologie, die
Individualpsychologie. Seine Theorie von der
menschlichen Entwicklung und Persönlichkeit
unterschied sich sehr von der Freudschen.
Der Mensch ist ein organisches Ganzes, eine unteilbare
Einheit von Körper, Seele und Geist. Adler betont die
soziale Persönlichkeit des Menschen: der Charakter
bildet sich als Resultat aus der Begegnung mit anderen
Menschen (Gemeinschaft).
Der Mensch ist mehr durch Zukunftserwartungen
motiviert als durch vergangene Ereignisse (Finalität).
Seine Annahme war: der Mensch ist eher durch sein
Bestreben nach Überwindung eines
Minderwertigkeitsgefühls angetrieben. Zu Anfang eine
Organminderwertigkeit sowie der Versuch einer
Kompensation (durch andere Organe) bzw.
Überkompensation (durch Training der minderwertigen
Organe). Es können organische oder aber auch geistige
Defizite vorliegen.
Der Mensch entwickelt schon früh einen unbewussten,
„geheimen“ Lebensplan.
Die Mittel der Kompensation können von der Umwelt
akzeptiert werden, angepasst sein, unakzeptiert oder
auch fehlangepasst sein. Je nachdem entstehen daraus
Konflikte. Aus einem Gefühl der Minderwertigkeit
entsteht ein Streben nach Macht.
Wilhelm Reich
Wilhelm Reich (1897 – 1957) ist der Frage nach der Sexual-
und Lebensenergie im Menschen tiefer nachgegangen
und hat in der Libido eine biophysikalische Energie
gesehen, die sowohl intrapsychische als auch
intraorganismische Strukturen bildet. Freud war auf der
Suche nach der Energie, die das neurotische Symptom
unterhält. Reich glaubte in der organischen Panzerung
die Blockade für die, ansonsten frei fließenden
vegetativen Energie gefunden zu haben. Ein Beispiel soll
die Entstehung von Charakter- und Körperstruktur durch
Frustration der Triebwünsche verdeutlichen:
Wird ein spontanes Verhalten, ein Bedürfnis im weitesten
Sinne, von der Umgebung nicht beantwortet oder sogar in
einer bestimmten Weise sanktioniert, entsteht
Frustration. Diese Frustration äußert sich im
Allgemeinen in Wut und Trauer, welche ein Säugling
völlig selbstverständlich und spontan zum Ausdruck
bringt. Der Säugling ist noch völlig ungepanzert, das
heißt, sämtliche vegetative Energie fließt völlig frei und
unbehindert gemäß den organismischen Bedürfnissen.
Im ungünstigsten Fall wird auch diese spontan geäußerte
Frustration mit Zurückweisung beantwortet, was bei
Gefühlen wie Wut und Trauer häufig der Fall ist, denn sie
sind für die Umgebung im höchsten Maße bedrohlich.
Spätestens hier beginnt die eigentliche Verdrängung.
Indem sich ein Teil der zurückgehaltenen Energie
abspaltet und gegen sich selbst wendet, entsteht eine
Panzerung, welche durch dieselbe Energie
aufrechterhalten wird. Die Panzerung manifestiert sich
aber in verschiedenen funktional identischen Formen.
Auf körperlicher Ebene in Form einer muskulären
Kontraktion, also Erhöhung des Muskeltonus oder aber
einer Erschlaffung der Muskulatur, die den spontanen
Ausdruck, d.h., die vegetative Energie zurückhalten. Im
psychischen Bereich in Form von Abwehrmechanismen.
An der Stelle, der gegen sich selbst gewendeten Energie,
entsteht ein innerer sowie äußerer Kontaktverlust,
während im äußeren Verhalten sich ein Ersatzkontakt
entwickelt, der nichts mehr mit dem primären Impuls zu
tun haben muss.
Auf diesem Wege entstehen sowohl Charakterpanzer
(Charakterstruktur) als auch Muskelpanzer
(Körperhaltung, Körperstruktur), die angepasste
Persönlichkeit also. In beiden ist die gesamte
Entstehungsgeschichte enthalten. Die Konflikte jedoch
sind der betroffenen Person in der Regel unbewusst.
Ebenso die Art und Weise ihrer Körperhaltung und -
reaktionen. Durch Charakteranalyse sowie Körperanalyse
ist es möglich, unbewusstes Material der Reflexion
zugänglich zu machen.
Reich hatte körperorientierte Zugänge zur Psyche
entwickelt. Unter anderem die vertiefte Atmung sowie
weitere „Körperübungen“, die gepanzerte Energien und
damit die Emotionen befreiten. Er nannte seine Therapie:
Vegetotherapie. Er legte damit die Grundsteine späterer
Körpertherapien und beeinflusste nachhaltig das
moderne Verständnis von den Beziehungen zwischen
Körper und Psyche in der Therapie.
Für Reich war die gesunde Sexualität und Persönlichkeit
synonym mit der frei fließenden organismischen
Energie, d.h. mit der Gesamtheit der natürlichen
Ausdrucksfähigkeiten des Menschen, ohne
Funktionseinschränkung. Reich entwickelte einen
gesellschaftskritischen Ansatz und untersuchte
massenpsychologische Phänomene, wie zum Beispiel den
Faschismus, der auf Unterdrückung der Sexualität
aufbaut. Für Reich hat jede patriarchalische und regide
Gesellschaftsordnung einen Nutzen von dieser
Unterdrückung.
(Collage aus Bildern aus dem Buch: „Die Rede an den
kleinen Mann“ von Wilhelm Reich
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Behaviorismus
Die Seele ist eine „Black Box“
Lernen am Modell
Die Humansitische Psychologie
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Wer bin ich und wenn ja, wie viele
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